Ja, die zitierte Kurzschilderung ist was die Ausgangsvoraussetzungen angeht etwas unscharf. Aber es macht wohl nur Sinn, sie so zu deuten, daß da eben ein erwachsener Mensch schwer krank geworden war, zu sterben drohte und dann doch überlebte, aber als andere Person weiterlebte mitsamt früherer Erinnerungen dieser neuen Person, die woanders gestorben war?
Und wie man das deuten könnte ist hier Thema. Es geht wohl auch etwas in Richtung solcher Fälle (dort präsentiert werden offenbar nur eher weniger "übersinnliche" Fälle)?
Sexuelle Neuorientierung infolge einer Neuvernetzung der Nervenbahnen, lautete die Diagnose seiner Ärzte. Mit anderen Worten: schwul durch Schlaganfall.
Es gibt andere Patienten, bei denen eine Neuvernetzung nach Gerinnseln im Gehirn ähnlich untypische Folgen hatte. Am bekanntesten ist das Foreign Accent Syndrome (FAS), von dem weltweit etwa 150 Fälle dokumentiert sind. Die Betroffenen leiden dabei unter einem Sprachfehler, den Außenstehende jeweils als Akzent eines bestimmten Landes identifizieren. Um das Leiden auszulösen, reichte bei manchem der Besuch seines Chiropraktikers.
Daneben gibt es Patienten, die durch ein Hirntrauma offenbar besondere Fähigkeiten erlangten. Der australische Teenager Ben McMahon etwa fiel nach einem Autounfall ins Koma, und als er aufwachte, sprach er Mandarin, fast fließend, obwohl er zuvor nur Grundkenntnisse erworben hatte. Und Tommy McHugh, ein Maurer aus Liverpool, hatte nach einer Hirnblutung extreme kreative Schübe, konnte nun malen und ist heute Künstler. Ein anderes Beispiel ist der LMU-Professor und ZDF-Wissenschaftsmoderator Harald Lesch, der in der Schule so schlecht in Mathe war, dass er Förderunterricht benötigte. Als Oberstufenschüler erlitt er bei einem Fahrradunfall einen Schädelbasisbruch - und war plötzlich mathematisch hochbegabt.
[...]
Zu Birchs heutiger Erscheinung gibt es ein Gegenbild, entstanden durch ein öfter abgedrucktes Foto, das ihn kurz vor dem Schlaganfall zeigt, als 19- oder 20-Jährigen. Als einen jungen Mann, "mit dem ich, wenn er mir jetzt begegnen würde, nie befreundet wäre", wie er sagt. Birch wog damals sicher 120 Kilo, etwa doppelt so viel wie heute. Auf dem Foto trägt er ein Basecap über raspelkurzem Haar, sein Gesicht ist gerötet, er grinst feist in die Kamera.
Zwei Bilder, die für zwei Leben stehen. Und mit denen sich bald jedes Klischee zementieren ließ. Ein stiernackiger Bankkaufmann, der nach einem Unfall auf dem Rugbyfeld fast 60 Kilo abspeckte und zum Friseur umschulte. Mehr war nicht nötig, "die haben geschrieben, was sie wollten".
Aus dem Koma erwachen und plötzlich Chinesisch sprechen oder Formeln lösen, das ist eine Sache. Aber die sexuelle Vorliebe wechseln? Schien der Fall von Chris Birch nicht auch irgendwie zu zeigen, dass sogar das fremde Ich nur einen Synapsenbrand entfernt liegt? Dass es theoretisch jedem möglich ist, als sein heftigstes Vorurteil aufzuwachen? Dass also selbst eine Mega-Hete, wie Birch sie einmal gewesen sein soll, sich beim Rasieren den Kopf am Badezimmerschrank stoßen könnte, nur um eine halbe Stunde später das verstörende Bedürfnis zu haben, dem Postboten die Zunge in den Hals zu schieben? Natürlich ist das Blödsinn. Aber das war oft der Subtext. Ohne einen kleinen homophoben Schauder kommt so eine Geschichte nicht aus.
Wenn andere so denken, ignoriere er das inzwischen, sagt Birch. Er hat Tommy McHugh, den malenden Maurer, im Wartezimmer seines Neurologen getroffen. "Sie werden dich einen Lügner nennen, du wirst nichts beweisen können", warnte ihn McHugh. "Sie haben auch mir nicht geglaubt, dass ich vor der Hirnblutung noch nie einen Pinsel in der Hand hatte. Also musst du selbst an dich glauben." Das zu hören, von jemandem, dem es ähnlich ging, sei befreiend gewesen, sagt Birch. Er hat viel Post bekommen von anderen Betroffenen. Er will mit seiner Geschichte zeigen, dass Schlaganfall-Patienten mehr brauchen als einen guten Logopäden und einen Physiotherapeuten. Deshalb gebe er überhaupt noch Interviews, sagt er.
https://www.sueddeutsche.de/leben/homos ... -1.1982995